Jetzt hat auch hier der Blogwichtel zugeschlagen und mich mit einem Artikel beschenkt. Meine Kollegin Meike Blatzheim beschäftigt sich darin mit dem Übersetzen einer Textsorte, die mir selbst eher selten auf den Schreibtisch flattert. Vielen Dank für diesen interessanten Beitrag, liebe Meike!
Ist das Übersetzen von Kinder- und Jugendliteratur einfacher als das Übersetzen von Belletristik? Sind ja einfachere Satzstrukturen, einfachere Wörter. Oder ist es im Gegenteil sogar schwieriger? Schließlich muss ich mich als erwachsene Übersetzerin auf einen ganz anderen Erfahrungshorizont einstellen.
Ich persönlich glaube, dass man mit einer solchen Herangehensweise auf keinen grünen Zweig kommt. Für Kinder und Jugendliche zu übersetzen ist nicht einfacher oder schwieriger, sondern anders. Allerdings kann man beim Übersetzen von Kinderliteratur manche allgemeinen Übersetzungsprobleme wie unter einem Brennglas betrachten, weil die zu überwindende Distanz zwischen Original- und Zieltext größer und die Verständlichkeit des Zieltextes besonders wichtig ist.
Kindheit im Wandel der Zeit
Kinder lesen Bücher, die Erwachsene geschrieben, Erwachsene übersetzt, Erwachsene ausgewählt haben. Zwar entscheiden ältere Kinder mit, was ihnen gefällt und was nicht (und mancher Buchliebling der Erwachsenen fällt dabei durch), aber was Erwachsene nicht für veröffentlichungswert halten, bekommen Kinder gar nicht erst in die Hände. Dabei ist Kindheit ein Konstrukt, das sich im Laufe der Jahrzehnte und Jahrhunderte verändert. Mit ihm verändert sich, was Erwachsene Kindern zutrauen und zumuten, seien es bestimmte Themen für bestimmte Altersgruppen oder der Anteil an Fremdheit im übersetzten Text, zum Beispiel ob Ortsnamen eingedeutscht werden oder nicht. Wer Kinderliteratur übersetzt, muss also reflektieren, wie der Zeitgeist in diesen Dingen tickt und auch, welches Bild er oder sie ganz persönlich von Kindern und Kindheit hat.
Pädagogische Konzepte in unterschiedlichen Kulturen
Ein eindrückliches Beispiel dafür, wie unterschiedlich Kinderbücher in verschiedenen Kulturen selbst innerhalb Europas und zur selben Zeit gelesen werden, bringt Dr. Svenja Blume in ihrem Beitrag zum Symposium des Arbeitskreises für Jugendliteratur auf der Leipziger Buchmesse 2018 anhand von Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf . Die frechen Streiche Pippis empfand man in Schweden schon bei Erscheinen des Buchs 1945 als unproblematisch. Das Buch traf dort auf die kinderliterarische Tradition der fantastischen Erzählung, zumal traute die weit verbreitete Reformpädagogik den Kindern zu, zwischen den Regeln, die für die Fantasiegestalt Pippi Langstrumpf in deren Welt gelten und denen, nach denen sie selbst in ihrer handeln sollten, unterscheiden zu können. Als der Roman 1962 ins Französische übersetzt wurde, strich man dagegen fast alle Lügengeschichten, denn die französischen pädagogischen und kinderliterarischen Normen waren andere. In Frankreich war man der Meinung, man müsse die Kinder (bzw. deren Erzieher*innen) vor dem schlechten Einfluss Pippis schützen. Ein so starker inhaltlicher Eingriff wäre heute zwar weniger denkbar, denn die Sensibilität im Umgang mit dem Original einer Übersetzung hat sich erhöht. Er wäre aber schon in den 1960ern in der Literatur für Erwachsene unwahrscheinlicher gewesen, denn niemand käme so schnell auf die Idee, Erwachsene vor schlechten Einflüssen schützen zu müssen. Wenn bei der Übersetzung von Kinderliteratur inhaltlich eingegriffen wird, dann geschieht das auch heute noch meist aus genau diesem Grund: Die pädagogischen Maßstäbe unterscheiden sich in Ausgangs- und Zielkultur und die erwachsenen Gate-Keeper entscheiden, dass man „so etwas“ einem Kind nicht zumuten könne. Es geht dabei um Dinge, die gefährlich werden könnten bzw. die Kinder zu „ungezogenem Verhalten“ anstiften (Pippis Lügengeschichten), Themen, die als zu „hart“ für die Kinder empfunden werden (z.B. alles rund um den Tod), Sauberkeitsprinzipien, körperliche Funktionen (z.B. kindliche/jugendliche Sexualität), aber auch religiöse, politische und gesellschaftliche Normen und sogar Sprachliches (wenn z.B. eine Figur im Buch etwas falsch schreibt und Übersetzer*in bzw. Verlag entscheiden, das in der Übersetzung nicht zu übernehmen). Auch auf die Entscheidung, welche Titel überhaupt übersetzt werden, haben solche Überlegungen Einfluss. Ich übersetze Literatur aus den skandinavischen Ländern – Länder, in denen auch heute noch manches lockerer gehandhabt wird als bei uns. Deshalb heißt es manchmal, wenn ich ein Buch beim Verlag zur Übersetzung vorschlage: „Das klingt total spannend, aber das können wir in Deutschland nicht machen.“
Die doppelte Adressierung und ihre (wortspielerischen) Tücken
Die Gate-Keeper-Funktion der Erwachsenen führt uns zur sogenannten doppelten Adressierung in der Kinderliteratur. Literatur für Kinder hat die Besonderheit, dass sie gleich zwei Zielgruppen bedienen muss. Vordergründig behauptet sie selbstverständlich, für Kinder geschrieben zu sein. Aber wenn sie die Erwachsenen nicht mindestens von ihrer Harmlosigkeit überzeugt oder (besser!) auch ihnen Spaß bereitet, wird sie es – je jünger die Zielgruppe, umso mehr – schwer haben, in den Kinderzimmern zu landen. Es macht nämlich deutlich mehr Spaß, ein anspielungsreiches Kinderbuch vorzulesen, das zusätzliche Elemente enthält, die nur die Erwachsenen verstehen, als eines, das sich rein auf der kindlichen Ebene bewegt. Ein Paradebeispiel für diese Art der Kinderliteratur ist die bekannte „Rico und Oskar“-Reihe des Autors Andreas Steinhöfel. Die Bücher leben vom doppeldeutigen Wortwitz, von dem die Kinder zwar höchstens einen Teil verstehen, über die sich die erwachsenen Mitleser*innen aber schlapp lachen. Übersetzende bringen solche Wortspiele und -verdrehungen manchmal an den Rand der Verzweiflung, denn sie lassen sich fast nie eins zu eins übersetzen. Es bleibt nur, Alternativen zu finden, eine andere Anspielung an anderer Stelle einfügen oder die Doppeldeutigkeit auf andere Art und Weise retten.
Kurze Texte übersetzen
In der Praxis ist es für mich als literarische Übersetzerin eine der größten Herausforderungen, den Ton eines Textes zu finden. Sobald ich mich eingeschrieben und den Sound eines Buchs im Ohr habe, geht die Arbeit deutlich schneller von der Hand. So kommt es, dass kurze Texte, wie es kinderliterarische Texte häufig sind, im Verhältnis zum Umfang gesehen einen größeren Arbeitsaufwand bedeuten. Insbesondere bei Bilderbüchern ist die Sprache zudem oft sehr reduziert. Je weniger Wörter auf einer Seite stehen, desto treffsicherer muss meine Übersetzung sein. Da ist einfach kein Platz für eine umständliche Erklärung, und auch Ungenauigkeiten verzeiht ein Bilderbuchtext von 5000 Zeichen weniger als ein Roman von 500.000.
Texte für kleine Kinder weisen eine weitere Besonderheit auf: Rhythmus und Klang kommt eine große Bedeutung zu, denn diese Geschichten sind zum Vorlesen geschrieben. Natürlich achten auch Belletristik-Übersetzer*innen auf Rhythmus und Klang ihrer Übersetzungen, aber beim stillen Lesen verzeihen Leser*innen unsaubere Stellen eher als beim Vorlesen. Gereimte Verse, beim Bilderbuch nicht unüblich, stellen eine weitere Herausforderung dar. Darauf im Detail einzugehen, würde diese Übersicht sprengen, daher nur so viel: Die Übersetzung grenzt hier manchmal an eine Nachdichtung, allerdings in engen Grenzen, denn womöglich sind die Reimwörter auf den Bildern zu sehen, sodass man sie nicht einfach ersetzen kann … Wer mehr über das Übersetzen von Bilderbüchern und Kinderlyrik erfahren möchte, dem empfehle ich diese Podcast-Folge der Kinderbuchpraxis mit Übersetzer Uwe-Michael Gutzschhahn.
Die Erklärungsbedürftigkeit kultureller Unterschiede
Ein typisches Übersetzungsproblem bei Büchern aller Genres sind Unterschiede in Kultur und Gesellschaft zwischen dem Land, in dem eine Geschichte spielt und dem, in dem die Übersetzung erscheint. Gehen wir von erwachsenen Leser*innen aus, können wir allerdings deutlich mehr Lebenserfahrung und Weltwissen voraussetzen als bei Kindern. Im Kleinen stoße ich auf solche Probleme bei jedem Buch. 2020 erschien zum Beispiel meine Übersetzung von Elin Hanssons „Bleistiftherz“ aus dem Norwegischen, einem Kinderroman ab 11. Die Geschichte spielt in den Sommerferien, zu einer Zeit, als sich im Leben der Protagonistin Liv viel verändert: ihre geliebte Oma ist gestorben, ihre beste Freundin weggezogen und im neuen Schuljahr wird Liv an der weiterführenden Schule beginnen. Erwachsene Leser*innen würden sich nun erinnern, dass die Geschichte in Norwegen spielt (was für das Buch an sich nicht wichtig ist) und das Schulsystem dort ein anderes ist: die Grundschule reicht bis zur 7. Klasse, sodass der Schulwechsel in der 8. Klasse ansteht. Bei einer 11-jährigen Leserin oder einem 11-jährigen Leser kann ich dieses Wissen aber nicht voraussetzen; die Gefahr ist groß, dass die Kinder irritiert sind, dass Liv mit ihren 13 Jahren bis vor kurzem noch die Grundschule besucht hat. In diesem Fall ließ sich das leicht (auf)lösen: Ich konnte einfach einen erklärenden Satz einfügen. Aber um solche Lösungen zu finden, muss ich als Übersetzerin im Kopf behalten, dass die Kinder je nach Lesealter einen anderen Verständnishorizont haben als ich als Erwachsene.
(Sprechende) Namen
Ebenfalls häufiger als in der Literatur für Erwachsene treffen wir in der Kinderliteratur auf sprechende Namen. Wunderbar kann man sich das bei den Harry Potter-Übersetzungen in unterschiedliche Sprachen anschauen. „Sirius Black“ war beispielsweise in einer frühen Ausgabe in „Sirius Schwarz“ übersetzt worden, wurde dann aber recht schnell auch in der deutschen Übersetzung zu „Sirius Black“. Die richtige Entscheidung? Das kommt darauf an, worauf man das Gewicht legt. Auf den Klang des Namens? Auf die Verständlichkeit? Und für wen übersetzt man hier, wie alt sind die anvisierten Leser*innen und welche Englischkenntnisse haben sie? Das Beispiel Harry Potter zeigt außerdem, dass sich das im Laufe der Zeit verändern kann und dann vielleicht die Revision einer Übersetzungsentscheidung nötig macht: Anfangs lasen Grundschüler, später (auch) ältere Kinder und Erwachsene – zumal sich durch den früheren Englischunterricht in den Schulen auch die Englischkenntnisse 10-Jähriger in den vergangenen 25 Jahren verbessert haben.
Auch hier gilt also wieder: Bei Übersetzungen literarischer Texte für Erwachsene können wir deutlich mehr voraussetzen als beim Übersetzen für Kinder.
Dialekt und Soziolekt
Mit Blick auf Texte für etwas ältere Leser*innen, nämlich die Jugendlichen, ergibt sich ein weiteres übersetzerisches Problem: Dialekt und Soziolekt. Als Übersetzerin aus den skandinavischen Sprachen habe ich tatsächlich häufiger auch mit Ersterem zu tun (im Norwegischen beispielsweise spielt Dialekt eine deutlich größere Rolle als bei uns und hat vor allem ein gänzlich anderes, viel positiveres Image – was also tun, wenn die Protagonistin ausgerechnet den Dialekt ihres Schwarms total süß findet?), alle Übersetzenden von jugendliterarischen Texten kämpfen aber mit dem Soziolekt, in diesem Fall meist: Jugendsprache. Kommt die im Ausgangstext vor, darf man sie selbstverständlich nicht unter den Tisch fallen lassen, läuft aber Gefahr, entweder peinlich zu werden (wenn man nämlich daneben langt, was Jugendliche sofort merken) oder die Halbwertszeit der Übersetzung zu verringern, da sich Jugendsprache rasend schnell verändert. Auch hier gilt es wieder, den Sound des Textes zu erspüren und zu übertragen. Zusammen mit einer Kollegin habe ich im vergangenen Jahr einen Roman übersetzt , dessen Erzähler eine ganz eigene, auch von Jugendsprache getragene Stimme brauchte. Über Mündlichkeitsmarker, aber auch in stundenlanger YouTube-Recherche tasteten wir uns an den passenden Sound heran – das ist im Grunde nicht anders, als in der Belletristik einen Ich-Erzähler zu übersetzen, dessen Stimme beispielsweise vom Gangstermilieu geprägt ist. In einem anderen Roman für dieselbe Zielgruppe, der vor allem von seiner Emotionalität lebt, reichten dagegen einige wenige jugendsprachliche Marker im Dialog. Hier durfte ich auf keinen Fall zu stark auftragen, denn das hätte nicht zum Grundtenor des Textes gepasst.
Versuch eines Fazits
Ist es also „ganz anders“, für Kinder und Jugendliche zu übersetzen? Ja und nein. Manches lässt sich aus der Belletristik übertragen. Anderes verlangt einen anderen, vielleicht genaueren Blick. Und der Drahtseilakt zwischen Treue zum Original und Verständlichkeit für die Zielgruppe ist vielleicht noch etwas wackliger als beim Übersetzen für Erwachsene. Wichtig finde ich vor allem, immer wieder zu reflektieren. Welche Vorstellung habe ich von Kindern oder Jugendlichen im entsprechenden Alter, was unterstelle ich ihnen möglicherweise und wie beeinflusst das meine Übersetzung? Wo glätte ich aus meinem Kindheitsbild heraus und ist das gerechtfertigt?
Abstreifen können wir unser persönliches Konzept von Kindheit wohl ebenso wenig wie das gesellschaftliche. Aber statt in unserer Position als Gate-Keeper stillschweigend Entscheidungen zu treffen, können wir versuchen, diese – in Zusammenarbeit mit dem jeweiligen Verlag – so genau wie möglich zu durchdenken und sie bewusst zu treffen.
Meike Blatzheim übersetzt aus dem Norwegischen, Dänischen und Schwedischen – und zwar vorwiegend Literatur für Kinder und Jugendliche. Sie arbeitet außerdem als Lektorin und Autorencoach direkt mit Autor*innen an neuen literarischen Stoffen. Ihre Website https://meike-blatzheim.de gibt einen ersten Überblick über ihr Schaffen, auf https://textgefaehrtin.de finden Sie mehr Informationen für Autor*innen und einen Blog mit Schreibtipps, aber auch mit Überlegungen rund ums literarische Übersetzen.