Natürlich sitzt jetzt niemand mit dem Rotstift am Schreibtisch und streicht für mich alle Änderungen im Text an. Dafür bietet Word eine sehr praktische Funktion namens „Dokumente vergleichen“. Auch die kleinsten Unterschiede zwischen der ersten und der zweiten Textversion werden damit rot hervorgehoben. Selbst die korrigierten Tippfehler. Und ergänzten Kommata. Damit kann nichts mehr schief gehen, oder? Schön wär’s. Nach der zweiten komplett umgeschriebenen Szene wurde der Text plötzlich ganz rot. Und damit meine ich auch ganz rot. Bis ans Ende der Datei, sämtliche noch folgenden rund dreihundert Seiten waren als „neu“ markiert. Das kann doch nicht sein?! Ich kenne diese Textpassage, die ist nicht neu. Warum behauptet Word jetzt etwas anderes? Der Vergleich mit der ausgedruckten ersten Textversion bringt schließlich des Rätsels Lösung: Die Autorin hat eine komplette, mehrseitige Szene gestrichen und der nachfolgende Text sich dementsprechend verschoben. Damit ist diese Funktion offenbar überfordert. Ab jetzt hält sie alles für neu und die tatsächlichen Änderungen sind in all dem Rot unsichtbar.
Jetzt gibt es mehrere Möglichkeiten: Verzweifelt aus dem Fenster springen, die überarbeitete Fassung ausdrucken und händisch mit der ersten Fassung vergleichen oder nach praktikableren Lösungen suchen. Ich habe es lieber gleich mit Nummer drei versucht und den verbliebenen Teil der beiden Textfassungen zum erneuten Vergleichen in zwei leere neue Dateien kopiert. Und plötzlich sieht es wieder normal aus, kein durchgehendes Rot versperrt mir mehr den Blick auf ein anderes Rätsel: Wieso streicht die Autorin eine Kernszene? Ich kann es einfach nicht glauben. Diese Szene soll plötzlich ersatzlos gestrichen worden sein? Wenn sie die streicht, müsste sie sich schon eine verdammt starke neue Szene ausdenken. Und wo ist die bitteschön? Misstrauisch wie ich manchmal bin, lösche ich sie auch nicht, sondern parke sie in einer separaten Datei. Guter Instinkt. Mehrere Kapitel weiter hinten finde ich sie nämlich in der neuen Textfassung wieder. Die Autorin hat sie nicht gestrichen, sondern nur versetzt. Aber das kann mir Word nicht anzeigen. Dazu bräuchte ich ein ganz anderes Programm, so eines wie Computerexperten es beim Programmieren verwenden. Hm, vielleicht schon einmal für den Wunschzettel vormerken? Weihnachten kommt bestimmt.
Ein paar Tage später darf ich jubeln, ich habe den Anschluss erreicht und kann ab sofort mit der neuen Textfassung weiterarbeiten. Endlich muss ich nicht mehr darauf achten, ob und wo sich etwas verändert hat. Denn im Endeffekt sind es nicht die neuen oder komplett umgeschriebenen Szenen, die die meiste Arbeit machen, sondern die Kleinigkeiten, die man so schnell übersieht. Hier ein Wort, da ein Satz verändert, und das muss man dann im Zieltext aufspüren und entsprechend abändern. Wodurch sich manchmal gar nichts und manchmal der komplette Satzbau verändert. Aber ab jetzt geht es ganz entspannt weiter.
(Bild: Birte Mirbach)