Eine Übersetzerin sitzt den lieben langen Tag am Schreibtisch und bewegt nichts außer den Fingern und den kleinen, grauen Zellen. Abenteuer erlebt sie ausschließlich in den Büchern, die sie übersetzt, falls sie nicht gerade Handarbeitsbücher überträgt. Stimmt doch, oder? Dachten Sie vielleicht.
Im Frühjahr wurde ich gefragt, ob ich nicht die Übersetzung eines Romans übernehmen wollte. Na und ob! Der Roman war zwar noch nicht ganz fertig, weshalb ich nur die vorläufige Version zur Ansicht bekam, aber auch die war schon vielversprechend. Ich öffnete die Datei und … als ich das nächste Mal vom Text aufsah, war ich schon dreißig Seiten weiter. Und hatte das erste Übersetzungsproblem identifiziert: Zwei Wörter, die sich reimen und dadurch für ein Missverständnis sorgen – ihre deutschen Pendants tun das leider nicht. Hm. Dazu fällt mir bestimmt noch etwas ein. Aber erst mal abwarten, wie die endgültige Textfassung aussieht. Vielleicht ändert sich da noch was?
Im Sommer sollte es dann losgehen. Das überarbeitete Manuskript war für Ende Juni angekündigt, so dass mir dann drei Monate Zeit blieben für die rund vierhundert Seiten. Nicht gerade umwerfend viel Zeit, aber machbar. Die letzte Juniwoche verstrich, die zweite Juliwoche brach an und wo blieb der überarbeitete Text? In England rührte sich noch nichts. Schließlich die Entscheidung des deutschen Verlages, ich solle mit der Übersetzung anfangen, da keine großen Änderungen zu erwarten seien. Also frisch ans Werk.
Hundertsiebzig übersetzte Seiten später kam sie dann: die (vermeintlich) endgültige Textfassung. Auf den ersten Blick sah es auch nicht schlimm aus, hier war ein Satz umgestellt, da ein Wort durch ein anderes ersetzt, dort ein Tippfehler korrigiert worden. Alles ganz harmlos. Bis ich Seite 80 erreichte. Ab dann war plötzlich ziemlich vieles rot markiert, um nicht zu sagen die ganze Seite. Oh, diese Szene kannte ich ja noch gar nicht. Wieso beschäftigte sich die Protagonistin während der Sitzung mit ihrer Psychotherapeutin plötzlich mit ihrem verstorbenen Bruder? Wo war die Szene mit den Fragebögen geblieben? Wozu hatte ich eigentlich die Psychologen in meinem Umfeld auf der Suche nach der deutschen Entsprechung für „Driver Questionnaire“ genervt, wenn die Szene jetzt unter den Tisch fällt? Tja, meiner Allgemeinbildung hat es jedenfalls nicht geschadet, jetzt weiß ich, was ein „Antreiber“ ist. Wer weiß, wozu ich das mal brauchen kann. Es half alles nichts, ich musste die Szene rausstreichen und durch die neue ersetzen. Die ersten Seiten landeten im Papierkorb.
(Bild: Birte Mirbach)